Schon seit mehreren Jahren spiele ich meine Gitarre nur noch hier oben vor’m Schreibtisch, oder in der Recording-Bude meines Schlagzeug-Buddies. Da hier im Haus auch noch andere Personen leben, habe ich mir schon lange abgewöhnt vor einem aufgedrehten Verstärker zu proben. Und auch in unserer Recording-Bude nutzen wir ein MIDI-Drumkit und die Gitarre wird direkt an das Audio-Interface angestöpselt. Sprich: Ich spiele zu 95% nur über Kopfhörer.
Seit einigen Jahren sind die Homecomputer und Laptops leistungsstark genug, dass man die Emulation eines Gitarrenverstärkers einer Software überlassen kann. D.h. die Gitarre wird an das Audio-Interface angeschlossen und die Software wird wie jeder andere Effekt in der DAW benutzt.
Gleich vorweg der Vorteil dieser Methode: Gitarrensoftware ist wesentlich günstiger und flexibler als echte Verstärker. Für 200,- bis 600,- € bekomme ich haufenweise Amp-Modelle nebst Boxen, Mikrofone, Effektpedale, eine Raumsimulation und andere digitale Spielereien. Für das Geld würde ich ansonsten nur einen halbwegs anständigen kleinen Röhrenverstärker bekommen. Die allgemeine Frage, ob die stetige Digitalisierung ein guter Weg ist, lasse ich hier jetzt mal außen vor.
Für viele Puristen ist der digitale Weg aber keine Alternative. Wenn die Strat nicht an einem echten Röhrenamp angeschlossen ist, ist es nicht authentisch und digital kann ja gar nicht gut klingen. Der Vorteil eines echten Amps ist die Einfachheit. Es dauert nur wenige Minuten und ich habe einen sahnigen schönen Sound eingestellt.
In der Software muss man vielleicht etwas mehr herumprobieren, allein schon weil die Optionen so vielfältig sind. Aber man kann auch hier sehr gute Sounds herausholen. Gerade, wenn man einen Song komplett recordet und abmischt, fällt es kaum noch auf, dass der Gitarrensound nicht einem echten Amp entspringt.
Und falls ich einen guten Verstärker besitze und ein anständiges Mikrofon, ist es trotzdem nicht so leicht den Sound so abzunehmen, wie ich es mir für eine Aufnahme wünsche. Da tüftelt man als Einsteiger genauso lange rum, wie in einer überladenen GUI einer Amp-Software. Von der Lautstärke beim Aufnehmen will ich hier gar nicht sprechen.
Also, man sieht schon, ich bin ein Fan digitaler Lösungen für Gitarre. Seit Jahren nutze ich AmpliTube von IK Multimedia. Mittlerweile gibt es diese Software seit über 20 Jahren und Anfang 2021 ist die Version 5 erschienen. Ich bin vor ungefähr 10 Jahren mit der Version 3 angefangen, habe zwischendurch TH-U von Overloud benutzt und bin seit der neuesten Version wieder bei AmpliTube gelandet.
Ich habe mir gleich zum Release die MAX Version zugelegt, die man damals für knappe 400,- € kaufen konnte. Mittlerweile legt man 600,- dafür hin, aber zwischendurch gibt es immer wieder spezielle Angebote.
Mit der MAX Version bekommt man das volle Programm: Über 100 Amps, über 100 Cabinets und auch mehr als 100 Bodentreter. Haufenweise Mikrofone und über 40 Rack-Effekte (bekannt aus T-RackS und MixBox) … im Grunde ist das fast schon zu viel Auswahl.
AmpliTube kann man als Standalone App nutzen (nebst Looper und eigener 8-Spur DAW) oder eben als Plugin in der DAW. Das grafische User-Interface wurde nochmal komplett überarbeitet und es macht schon Spaß an den schön dargestellten Effekten herumzudrehen. Das Auge isst eben mit. Allerdings ist das wichtigste natürlich der Sound…
Der Sound
Es ist immer schwierig den Sound einer Effektsoftware ganz allgemein und objektiv zu bewerten. Es gibt so viele verschiedene Gitarrenmodelle, Audio-Interfaces und natürlich auch Spielweisen, dass man bei dieser Anzahl an Variablen nicht wirklich fair urteilen kann. Aber eines schonmal vorweg: Die Presets sind nicht immer die beste Wahl, weil sie meistens komplett überzogen sind. Anscheinend will man hier mit den ganzen abgefahrenen Möglichkeiten angeben und übertreibt es etwas mit den Einstellungen.
Ein weiteres Problem bezüglich des Sounds ist der Unterschied des Hörens. Wenn ich über einen echten Amp spiele, dann sitze ich meistens ca. 2 Meter entfernt und der Sound klingt auch im Raum. Bei einer Software sitze ich meistens vor einem Monitor, mit Kopfhörern auf den Ohren. D.h. der Raumklang fehlt zunächst komplett und das lässt den Gitarrensound zunächst einmal unnatürlich klingen. Aber AmpliTube hat einige Möglichkeiten diesen fehlenden Raum zu emulieren.
Auch wenn die Presets zunächst vielleicht etwas zu viel des Guten sind, bieten sie trotzdem immer einen guten Ausgangspunkt für weitere Anpassungen. Man kann sich aber natürlich auch ein Setup von Grund auf zusammenstellen.
Mein persönliches Lieblingsrig besteht aus einem Orange AD30 Amp, einer 4*12er Box mit HiAmp Speakern. Davor stehen zwei dynamische Mikrofone, eines vintage, das andere ein SM57. Das Setup steht in einem virtuellen mittelgroßen Studio und den Raumklang habe ich zu 50% dazu gemischt und das Stereobild etwas erweitert.
Vor den Verstärker habe ich ein Noise Gate Pedal angeschlossen, ein Wampler Pinnacle Deluxe Distortion Pedal, dessen Sound ich zusammen mit dem Orange liebe – egal, ob mit Single Coils von meiner Fender oder mit den Humbuckern in meiner Gretsch. Dann sind da noch ein Fender Tape Echo und ein Univibe in meiner Effektkette, die ich dann bei Bedarf dazuschalten kann.
Wie gesagt, ich kann weder beurteilen, ob der Orange nach einem echten Orange klingt, oder ob der Sound für alle Ohren gut klingt. Ich mag ihn mit meinen Gitarren. Ich besitze keine teuren Instrumente mit hochwertigen Tonabnehmern.
Ich finde allerdings schon, dass der Sound so für sich alleine noch ein wenig digital klingt (zumindest über Kopfhörer). Es hat sich richtig viel getan in den letzten 15 Jahren und in einer gemischten Bandaufnahme würde ich das wohl nicht mehr hören, aber wenn ich mit den Kopfhörern über die Software Gitarre spiele ist es doch noch nicht ganz das gleiche Spielgefühl, wie über einen guten Amp. Trotzdem ist es ein verdammt guter Kompromiss.
Die Spielzeuge
Natürlich ist noch wichtig, was man alles bekommt (wenn man die MAX Version besitzt). Man kann auch eine kostenlose Version von AmpliTube herunterladen und sich dann nach und nach einzelne Komponenten im Shop dazukaufen. Es gibt da mehrere Optionen. Allerdings macht es schon Spaß, wenn man die ganze Palette an Amps, Boxen und Effekten hat. Auch wenn ich meistens dasselbe Setup benutze, macht es einfach Spaß immer mal wieder herum zu probieren.
Links das Menü ist relativ leicht zu verstehen. Man kann oben entweder direkt nach einem bestimmten Stück Gear suchen, oder anhand der Icons die Kategorie auswählen: Amp, Effektpedal, Box oder Rack-Effekt. Diese Dinge kann man sich dann entweder anhand des Typs auflisten lassen, oder anhand der vorhandenen Kollektionen (Bsp: Fender-Kollektion, Hendrix-Kollektion, Brian May, Slash, Engl, Orange, etc…). Alleine die ganzen Verstärker sind der Hammer! Da bleibt wirklich kein Wunsch offen. Ich weiß nicht, wie authentisch diese klingen, aber man kann schon den typischen Sound eines Fender-, Orange– oder Marshall-Amps erkennen.
Die Box wird zunächst anhand des Verstärkers automatisch mit ausgewählt, man kann aber alles Mögliche miteinander kombinieren, selbst die einzelnen Lautsprecher innerhalb einer Box!
Bei der Auswahl der Verstärker bleibt kaum ein Wunsch offen. Es gibt sie alle: Die kleinen Fender Combos (57 Champ, Champion 600, Pro Junior, …), die Klassiker (65 Deluxe Reverb, 65 Twin Reverb, Princeton, Bassman, …) und die Super Sonics und Vibro-Kings.
Auch Marshall Amps sind in großer Zahl vertreten, allerdings heißen diese nicht immer Marshall, es sei denn sie gehören zur Slash Kollektion. Lizenz-Politik, muss man nicht verstehen.
Wie bereits erwähnt finden wir ansonsten viele Orange Modelle, Mesa Boogies, Engl Amps, Carvin, Jet City, Z, einige spezielle Vox Verstärker von Brian May (Queen) und haufenweise Amps in den AmpliTube Kollektionen, die teilweise ebenfalls nicht beim Namen genannt werden dürfen. Außerdem gibt es noch ein paar coole Leslie Verstärker. Alle Amps haben natürlich die passenden Boxen dabei. Achja, seit Neuestem hat AmpliTube auch einen Custom IR Container dabei, in dem man seine eigenen Impulse Responses von diversen Boxen laden kann. Wow!
Noch viel spannender finde ich die umfangreiche Effektsammlung. Es gibt 10 verschiedene Delay Pedale, darunter Nachbildungen von Boss, EHX und Fender. 24 Distortion-Treter mit Modellen u. a. von EHX, Boss, Fulltone, Marshall, MXR und Wampler.
Es gibt 9 verschiedene Kompressoren und Booster, sowie einige EQs und haufenweise Filter (Wah-Wahs). Neben den Distortion Pedalen gibt es noch eine Kategorie mit Fuzz-Tretern. Außerdem 21 verschiedene Modulations-Effekte (Flanger, Phaser, Chorus und Tremolos) und einige Pitch– und Reverb-Pedale. Es ist alles da!
Neben den Bodentretern gibt es bei AmpliTube noch die Rack-Effekte, die normalerweise hinter Amp und Box geschaltet werden. Diese Effekte kennt man schon aus IK Multimedia Produkten wie SampleTank oder T-RackS. Seit Kurzem gibt es sie auch in einer eigenen Software namens MixBox.
Hier gibt es nochmal richtig viele und gute Effekte. Viele Standard-Mixing-Tools, wie EQs, Kompressoren, Reverbs, aber auch kreative Effekte, wie Delay, Saturation, Filter und Modulation.
Die Frage ist, ob man diese Effekte wirklich braucht, weil man das Abmischen in der Regel in der DAW direkt macht. Aber hey, man bekommt das alles mit dazu und man kann die Effekte einsetzen wo man will. Ich kann Rack-Effekte auf mein Pedalboard packen und umgekehrt Pedale in mein Mixing-Rack. Sehr cool umgesetzt!
Wie bereits erwähnt gibt es noch haufenweise Mikrofone und Lautsprecher zur Auswahl. Man kann die Mikrofone sehr genau vor dem Amp platzieren, verschiedene virtuelle Räume und deren Klang nutzen und alles sehr genau zusammen mischen. Ich habe jetzt bestimmt noch was vergessen, aber AmpliTube lässt wirklich kaum Wünsche offen.
Fazit
AmpliTube 5 MAX ist riesig. Mir gefällt der Sound und auch die Optik. Gerade als Gitarrist will ich zumindest schicke Grafiken sehen, wenn ich schon virtuelle Amps und Effekte nutze. AmpliTube sieht fantastisch aus … benötigt daher aber auch etwas mehr Systemresourcen, als andere Ampsimulationen.
Der Sound ist sehr gut. Ich habe bisher schon einige AmpSim-Software Pakete ausprobiert und neben TH-U ist AmpliTube die Software, die mir soundtechnisch am besten gefallen hat. Aber wie bereits gesagt, dass ist sicherlich subjektiv. TH-U finde ich sehr gut, weil es dort einen Rigplayer gibt, mit dem man komplette Profile eines Amp-Rigs laden kann. D.h. das sind quasi Impulse Responses vom kompletten Amp-Sound, nicht nur der Box – ähnlich wie bei einem Kemper Amp.
Aber AmpliTube hat die coolsten Verstärkermodelle, die coolste Auswahl an Effekten und die beste Möglichkeit den Sound im virtuellen Raum einzustellen. Außerdem sieht das GUI und die einzelnen Komponenten fantastisch aus.
Falls ich einem Neuling eine Amp-Software empfehlen müsste, dann AmpliTube. Aber vielleicht nicht gleich die MAX Version, weil man schnell überfordert ist bei solch einer Auswahl an Möglichkeiten. Achso, wer mal so ein wenig einen Eindruck vom Sound und so bekommen will, dem empfehle ich einfach mal dieses Video:
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